DAZZ: Dasein - Zeit haben - Zuhören

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Dasein - Anteil nehmen - Zeit haben - Zuhören

  Ob wir es mit einem Freund, mit unserem Partner, mit Familienangehörigen oder mit Patienten zu tun haben, alle werden uns dankbar sein, wenn wir DAZZ¹ praktizieren: Dasein, Anteil nehmen, Zeit haben und Zuhören. DAZZ ist zugleich das Einfachste und Schwierigste, was wir unseren Mitmenschen entgegenbringen können. Einfach ist es, weil es keiner besonderen Ausbildung oder therapeutischen Qualifikation bedarf. Mit etwas Übung und der entsprechenden inneren Einstellung ist dazu jeder Mensch mit Herzensbildung fähig. Schwierig ist es, weil es für viele von uns völlig ungewohnt ist, alles, was uns bewegt, in aller Offenheit auszusprechen sowie einfach nur geduldig, aufmerksam und Anteil nehmend zuzuhören, ohne gleich kluge Problemanalysen und Lösungsvorschläge anzubieten.

DAZZ: Dasein - Zeit haben - Zuhören

Das schwierigste an DAZZ aber ist, auszuhalten, dass ein Anderer in Not ist und aus dieser Notlage nicht ohne weiteres herausfindet. Da viele von uns (dank gut trainierter Spiegelneurone) mitfühlend sind, leiden wir mit dem Mitmenschen, der uns seine Probleme anvertraut, oft mit. Viele von uns können in sich selbst die Anspannung, Angst, Wut, Enttäuschung, Trauer oder Verzweiflung des Anderen spüren, manchmal stärker, als sie unser Gegenüber selbst empfindet. Es ist natürlich und menschlich, dass wir diese negativen Gefühle nicht lange aushalten wollen. Daher drängt es uns meist, so schnell wie möglich eine Lösung zu finden.
 
Genau damit ist dem Anderen aber oft nicht geholfen, insbesondere dann nicht, wenn sein Problem trotz vieler gut gemeinten Ratschläge und Lösungsstrategien schon seit längerem fortbesteht. Wenn wir jemanden, der sich schon lange mit einem Problem oder Leidenszustand herumschlägt, Ratschläge erteilen, geben wir indirekt die Botschaft, dass er und alle anderen, die ihm bisher unterstützt haben, offensichtlich nicht gut genug und unfähig waren, das Problem zu lösen. Wir laufen Gefahr, denjenigen, dem wir eigentlich helfen wollen, zu kränken.

Lösungsvorschläge machen daher meistens nur unter zwei Voraussetzungen Sinn: Erstens sollten wir den Betroffenen, seine Problemsituation und ihre Vorgeschichte sehr gut kennen. Wir sollten das Problem des Anderen aus dessen Innenperspektive wirklich verstanden haben. Für viele Betroffene fühlt es sich viel hilfreicher an, wenn sie erleben, dass ein Anderer sich wirklich bemüht, sie zu verstehen, als wenn sie mal wieder irgendwelche Ratschläge bekommen. Zweitens sollten wir uns vom Betroffenen – wenn wir glauben, seine Situation wirklich verstanden zu haben, und wenn wir eine gute Lösungsidee haben – erst einmal eine Einladung oder Erlaubnis einholen, dass wir ihm Rat erteilen dürfen. Also bitte keine Ratschläge ohne Auftrag!

Selbst wenn wir ausdrücklich aufgefordert werden, Rat zu geben, ist Vorsicht geboten. Anhängliche Typen zum Beispiel versuchen, andere dadurch zu binden, dass sie ständig um Rat fragen. Solange sie die Ratschläge anderer befolgen, ohne damit in ihrem Leben wirklich voranzukommen, müssen sie keine eigene Verantwortung übernehmen. Darin besteht – natürlich unbewusst und ohne bösen Vorsatz – ihre Strategie, die Mühen zu vermeiden, die mit einer selbstständigen Lebensführung verbunden sind. Also bitte noch einmal: Vorsichtig sein mit Ratschlägen! Nicht immer erweisen wir anderen einen Liebesdienst, wenn wir ihnen ihre Wünsche erfüllen.

Denken wir nur an unsere Kinder. Wir fördern ihre Entwicklung nicht, indem wir versuchen, ihnen alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ihnen jede Frustration zu ersparen und jegliche ihrer Verstimmungen durch Verwöhnung zu beseitigen. Wohl aber werden wir – wenn wir nicht selbst allzu sehr belastet sind – ihnen immer ein freundliches Ohr schenken, uns wohlwollend ihre Sorgen und Klagen anhören, mitfühlend ihre Nöte und zum Teil heftigen Emotionen aushalten.  


Wenn wir anderen DAZZ anbieten, sollten wir selbst emotional einigermaßen gesund und stabil sein. Wir sind ja ein Vorbild, insbesondere darin, nicht voreilig Ratschläge auszuteilen. Das bedeutet nicht, dass DAZZ völlig passiv ist. Wenn wir sehen, dass jemand in seiner Lebenssituation völlig überfordert ist, können wir ihn ganz konkret unterstützen und für ihn sogar wichtige Lebensbelange organisieren. Aber bitte nur, wenn wir vom Betroffenen einen ausdrücklichen Auftrag dafür erhalten haben. Ein wichtiges Ziel bleibt immer, dass der Betroffene so viel Eigenverantwortung wie möglich behält oder zurückgewinnt.

DAZZ ist eine Form praktizierter Liebe. Mit DAZZ können wir andere Menschen, die leiden, ohne große Worte trösten, entlasten, ermutigen und ihre Angst vermindern. Vor allem auf das geduldige Zuhören kommt es an. Andere erzählen uns ihre Geschichten. Vielleicht immer wieder. Vielleicht so oft, dass wir sie gar nicht mehr hören wollen. Auch wir selbst erzählen Geschichten. Möglicherweise nur uns selbst. Von Kindheit haben wir uns selbst und anderen Geschichten erzählt.

Geschichten sind lebenswichtig. Die fantasievollen Geschichten, die Kinder erzählen, sind Teil ihrer Identitätsbildung. Auch wir Erwachsenen teilen über unsere Geschichten etwas darüber mit, wer wir sind oder wer wir zu sein glauben. Unsere Geschichten enthalten Glaubenssätze und Pseudoerklärungen, die wir für unser Selbstwertgefühl brauchen und die zugleich den Erwartungen unserer sozialen Umgebung entsprechen. Mit unseren Geschichten rechtfertigen wir unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und anderen. Wir glauben an diese Geschichten und versuchen, auch unsere Mitmenschen von ihnen zu überzeugen.

Gerade wenn wir durch eine Situation unter emotionalem Druck stehen, drängt es uns, von dieser Situation immer wieder zu erzählen, so lange, bis die Geschichte über diese Situation erträglich wird. Bei manchen Menschen betrifft dieser Erzähldrang ihre ganze Lebensgeschichte. Sie müssen sie anderen so lange immer wieder erzählen und umerzählen, bis sie sie ertragen können. Das kann für die Zuhörer sehr anstrengend werden. Wenn wir aber jetzt verstehen, welche Funktion Geschichten haben, wird uns das Zuhören vielleicht leichter fallen.


In den sozialen Bezügen unserer Leistungs- und Unterhaltungsgesellschaft mangelt es allzu häufig genau daran: an Zeit füreinander, an Geduld und an der Fähigkeit, einander wirklich zuzuhören. Hätten wir eine flächendeckende Kultur von DAZZ oder würden wir eine solche Kultur begründen, indem wir uns in Gemeinschaft, mitmenschlicher Solidarität und im geduldigen Zuhören üben, dann hätte sich die Verordnung von Antidepressiva in Deutschland in den letzten 15 Jahren vielleicht nicht verdreifachen und sich die Inanspruchnahme von Psychotherapie vielleicht nicht verdoppeln müssen.




Gesprächsrunde im Kloster NaturSinne

¹Die Idee für DAZZ  verdanke ich meinem Freund Dr. med. Christian Hellweg aus Frankfurt.

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