Pentagramm: ganzheitliche Betrachtung von emotionalen Herausforderungen

Das Pentagramm

Hilfreiche Fragen stellen

Wenn sich jemand für dich Zeit nimmt und sich spürbar für deine aktuelle Problem-, Lebens- oder Leidenssituation interessiert, kann das ein großes Geschenk sein (siehe auch DAZZ). Oft vermindern sich allein durch das geduldige Zuhören und durch Fragen anderer, die von Anteilnahme und echtem Interesse zeugen, deine Anspannung und negativen Gefühle. Indem du gut gestellte Fragen beantwortest, kannst du mehr Klarheit gewinnen und deine emotionale Betroffenheit besser begreifen. Das Pentagramm (griechisches Wort für Fünfeck) lädt dazu ein, emotional belastende Situationen unter fünf psychologisch wichtigen Aspekten zu betrachten und (dir selbst und anderen) entsprechende Fragen zu stellen. Das Ziel ist, mit Problemen, Stress, Ängsten und anderen negativen Gefühlen besser fertig zu werden.

Ursprünglich entwickelte und nutzte ich das Pentagramm in meiner Funktion als Dozent für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. In der Einzel- oder Gruppensupervision unterstütze ich weniger erfahrene oder noch in der Ausbildung befindliche Kollegen dabei, ihre Patienten nach den Regeln der therapeutischen Kunst zu behandeln. Supervisionsbedarf entsteht generell immer dann, wenn ein Therapeut bei der Behandlung eines Patienten an seine Grenzen stößt und sich zum Beispiel unsicher, überfordert, hilflos oder emotional belastet fühlt.

Eine Besonderheit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie besteht darin, dass eine starke emotionale Reaktion des Therapeuten auf einen Patienten in der Regel nicht als Störung der Behandlung, sondern als große Chance verstanden wird, etwas Wichtiges von dem Patienten zu verstehen. Der Körper und die Seele des Therapeuten sind gewissermaßen ein Seismograf für verborgene Informationen, die für die Krankheit des Patienten eine wichtige Rolle spielen. Bei der emotionalen Reaktion der Therapeuten lassen sich fünf bedeutsame Aspekte unterscheiden:

Pentagramm - Orientierungshilfe für Supervision, Selbstmanagement und Gruppenprozesse

Worum geht es?

Die fünf Aspekte sind nicht nur wissenschaftlich gut begründbar, sondern haben sich vor allem ganz praktisch in meiner jahrzehntelangen Supervisionstätigkeit bewährt. Sie können auch Nichttherapeuten im Alltag wertvolle Dienste leisten. Die folgenden Fragen sollen deutlich machen, worum es im Einzelnen geht:

1.    Körper/Sinne:
Wie geht es mir gerade? Wie fühle ich mich?
Welche Körperreaktionen und Emotionen lösen ein Anderer oder eine Situation bei mir aus (aktuell oder immer wieder)?
Wo im Körper spüre ich meine Emotionen (zum Beispiel Ärger als Stein im Bauch, Traurigkeit als Schwere im ganzen Körper, innere Anspannung als Kopfschmerzen, Angst als Kloßgefühl im Hals)?

2.    Befürchtungen:
Was ist meine größte Sorge?
Was kann (mir) schlimmstenfalls passieren (augenblicklich oder in Zukunft; in Bezug auf den Anderen oder die Situation
; zum Beispiel Scheitern, Verlust eines geliebten Menschen, schlecht dastehen, finanzielle Nachteile)?        
Was ist, wenn genau das eintritt?

3.    Denken/Kognition:
Was denke ich über den Anderen oder die Situation (zum Beispiel gefährlich, liebenswert, wichtig)?
Was sagt der gesunde Menschenverstand/Hausverstand?
Welche Glaubenssätze habe ich? Sind diese Glaubenssätze hilfreich?
Wie wirkt sich die Situation auf meine Denkfunktionen aus (zum Beispiel Ratlosigkeit, Verwirrung)?
           
4.    Erfahrung:
Woher kenne ich das (diese Situation, diese Emotionen, diese Ängste, diese Symptome, diese Gedanken und Glaubenssätze)?
Woran erinnert mich die Situation beziehungsweise ein Anderer (zum Beispiel an einen früheren Chef, der mich ausgenutzt hat)?          ­
Wo und wann habe ich diese Art zu reagieren, zu fühlen oder zu denken, gelernt?
Habe ich das Problem mit anderen Patienten oder anderen Menschen in meinem privaten Umfeld auch (selbstkritische Redlichkeitsfrage)?

5.    Wünsche:
Wonach sehne ich mich?
Was brauche ich gerade (z.B. mit meiner Angst, Wut, Traurigkeit, Verzweiflung, Unsicherheit)?
Was wäre im Augenblick oder in Zukunft das Schönste oder Beste, was (mir) passieren kann?
Was wünsche ich mir vom Anderen (zum Beispiel er soll mich anerkennen)?      
Was wünsche ich mir für den Anderen (zum Beispiel, dass er sich endlich von seinem gewalttätigen Partner trennt)?     

Persönliche Erfahrungen mit dem Pentagramm im Alltagsleben

Meine Partnerin und ich nutzen das Pentagramm, um uns in Problemsituationen zu orientieren und gegenseitig zu unterstützen. Ein Beispiel: Ich fühlte mich vor einigen Jahren durch meine Firma sehr belastet. Ich schlief schlecht und fühlte mich häufig erschöpft. Auch mit meiner Partnerin war ich unzufrieden, weil ich mich von ihr nicht ausreichend unterstützt fühlte. Ich war ratlos, wie es in dieser Situation weitergehen sollte. Um mich zu sortieren, „machte ich mein Pentagramm“:

  


19. Mai 2016
Wiesbaden

Wünsche

  • Mehr Unterstützung von C.
  • Gemeinschaft mit Menschen, die nach neuen Wegen suchen und offen sind für neue Erfahrungen
  • Ein zeitgemäßes Kloster gründen
  • Vertrauen und Liebesfähigkeit weiterentwickeln
  • Mehr Freude und Erfüllung erleben

Sorgen
  • Weiter ohne wirkliche Sinnerfüllung leben
  • eine schwere Krankheit bekommen
  • sterben, bevor ich meine Visionen verwirklicht habe
Körper
  • fühle mich erschöpft und körperlich weniger leistungsfähig, lustlos
  • schlafe schlecht, oft wach
  • innere Unruhe und Anspannung
Erfahrung
  • Bin auch früher schon immer wieder an meine Grenzen gestoßen
  • Wenn es mir nicht gut geht, gibt das mir die Kraft, etwas zu ändern
  • Neu ist, dass ich wirtschaftlich wirklich unabhängig und frei bin

Denken
  • Viel Kraft und Lebenszeit sind an Aufgaben gebunden, die mich nicht erfüllen
  • Ich werde älter und bin nicht mehr so belastbar
  • C. lässt mich mit meiner Last allein
  • Große Chance für einen grundlegenden Wandel


Ich besprach mein Pentagramm mit meiner Partnerin, C. Sie hatte anfangs wenig Lust, mir in meiner Firma beizustehen. Wie sollte sie mir da auch helfen? Als Mitarbeiterin in meiner Firma eignete sie sich nicht, darin waren wir uns einig. C.s erster Impuls war, sich mit Händen und Füßen gegen meine Erwartungen zu wehren. Ich bat C., so gut es ging eine „objektive“ Rolle einzunehmen und mir Verständnisfragen zu meinem Pentagramm zu stellen. C. war einverstanden. Es schien ihr nicht schwer, einfach nur die Fragen zu den oben genannten fünf Aspekten zu stellen.

C. fragte: Was würde sich für dich verbessern, wenn ich zuverlässig an deiner Seite wäre? Ich: Ich möchte, dass du meine Klarheitsministerin bist. Das gefiel C. als Aufgabe. Das war eine Erwartung, die sie für wichtig hielt und die sie gerne erfüllen würde. Auch die anderen Fragen von C. halfen mir, mein Pentagramm noch besser auf den Punkt zu bringen. Vor allem wurde mir durch C.s Fragen deutlich, wie sehr ich mich danach sehnte, mit meiner Verantwortung nicht mehr so allein zu sein. Nach C.s Fragen hatte sich mein Pentagramm wie folgt verändert:




20. Mai 2016
Wiesbaden
Wünsche
  • Nur noch tun, was ich als wirklich wertvoll und sinnvoll empfinde, vor allem ein zeitgemäßes Kloster gründen
  • C. verlässlich an meiner Seite spüren
  • Mit Hilfe von C. mehr Klarheit gewinnen und nach außen kommunizieren

Sorgen
  • Mich weiter aufreiben an Aufgaben, die mich nicht mit Sinn und Freude erfüllen
  • Kraft und Zeit zu verlieren
  • Weiter mit meiner Verantwortungslast allein zu sein
Körper
  • Erschöpft, lustlos
  • Schlaf schlecht
  • Unruhe und Anspannung
Erfahrung
Alle Situationen, die mich früher an meine Grenzen gebracht haben, habe ich mit meinem Durchhaltevermögen am Ende gut gemeistert. Am Ende wurde alles gut.
Denken
  • Ich werde auch die augenblicklichen Schwierigkeiten gut bewältigen.
  • Es ist wichtig, dass ich meine begrenzten Kräfte und meine begrenzte Zeit auf das wirklich Wesentliche fokussiere.

Der nächste Schritt ist, dass derjenige, der sich bisher auf die Aufgabe beschränkt hat, zuzuhören und Fragen zu stellen, nun mitteilt, wie es ihm in Bezug auf das, was er gehört hat, geht. Er kann jetzt sein eigenes Pentagramm beschreiben. Während mir C. zugehört hatte, hatte ihr Körper mehrfach reagiert; Gefühle, Ärger und Ängste kamen hoch; Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Obwohl sie wusste, dass sie im Anschluss an ihre Fragen zu meinem Pentagramm selbst Gelegenheit haben würde, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen, war es ihr nicht leicht gefallen, mich ausreden zu lassen und mich nicht zu unterbrechen. Jetzt endlich konnte auch sie loswerden, was sie bewegte: vor allem, dass sie zeitweise einen Kloß im Hals verspürte und sich unter Druck fühlte. Das Pentagramm half ihr zu sehen, welche Ängste, Wünsche, Denkinhalte und Erfahrungen mit ihrem Körpergefühl im Zusammenhang standen.

Meine langjährige Erfahrung mit dem Pentagramm ist, dass die Reaktion anderer auf das eigene Pentagramm vieles ans Licht bringt, was bislang im Dunkel des Unbewussten oder Vorbewussten verborgen war. Deshalb hörte ich C. sehr interessiert zu. C.s emotionale Reaktion und ihr Pentagramm würden mir nicht nur noch mehr von C.s Wesen offenbaren, sondern auch mir meine eigenen unbewussten Anteile spiegeln.






Wünsche
  • Selbstbestimmt leben
  • Kreativ sein, an meinem Konzept für mündige Spiritualität weiterarbeiten
  • Auf Udos Gesundheit aufpassen
  • Dass Udo seine Mitarbeiter entschlossener führt und stärker durchgreift
  • Mit Udo das Leben genießen
  • Mit Udo ein zeitgemäßes Kloster gründen


Sorgen
  • Unfrei sein
  • Fremde Erwartungen erfüllen müssen
  • Dass Udo gesundheitlichen Schaden nimmt und ich ihn verliere
  • Dass unsere Beziehung Schaden nimmt

Gestaltung Andreas Frenzel

Körper
  • Kloß im Hals
  • Fühle mich unter Druck

Erfahrung
  • Bei meinen früheren Jobs musste ich mich oft verbiegen
  • Ich hatte selten das Gefühl, eine sinnvolle Arbeit zu machen, in der ich meine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen konnte
  • Seit ich mit Udo zusammen bin, kann ich meinen Tag frei bestimmen und meine Kreativität entfalten.

Denken
  • Udo arbeitet zu viel und gefährdet damit seine Gesundheit
  • Udo braucht mich. Aber wie soll ich ihm helfen? Ich habe mit seiner Arbeit keine Erfahrung
  • Ich habe keine Lust, in seiner Firma zu arbeiten. Dafür eigne ich mich auch nicht.
  • Udo ist seinen Mitarbeitern gegenüber nicht klar genug.


Als psychotherapeutischer Lehrer arbeite ich gerne mit Gruppen. Mit Hilfe von C. wurde mir aber klar, dass ich zu lange versucht hatte, die Schwierigkeiten in meinem Unternehmen gemeinsam mit allen Mitarbeitern zu beraten und über die Einsicht aller die notwendigen Veränderungen zu erreichen. Ich sah schließlich ein, dass ich mit dieser kräftezehrenden Strategie gescheitert war. C. fühlte instinktiv, dass ich nur durch entschiedenes Durchgreifen die gewünschte Ordnung schaffen würde. Ich entschloss mich, auf C.s Instinkt zu vertrauen. Ich hörte auf, alles mit meinen Mitarbeitern zu beraten, und machte stattdessen klare Vorgaben. Schließlich entließ ich - schweren Herzens - sogar Mitarbeiter. Nach einigen turbulenten Monaten waren die Probleme gelöst. C. war in dieser Zeit nicht von meiner Seite gewichen, was sie mitunter selbst an den Rand ihrer Belastbarkeit brachte. Am Ende konnten wir aber gemeinsam aufatmen.


Pentagramm in der Paarbeziehung

Das Pentagramm eignet sich auch sehr gut für Konflikte zwischen Partnern. Als ich 2016 mit Schwierigkeiten in meiner Firma konfrontiert war, wurde auch die Beziehung zwischen C. und mir belastet. In dieser Zeit gewöhnten wir uns an, unsere Streitigkeiten immer früher zu unterbrechen, unsere Pentagramme aufzuschreiben und nebeneinander zu legen.

Etwas Erstaunliches passiert dabei: Ein unüberwindbar scheinendes Problem, das gerade noch unsere Gemüter erregt hat, liegt in Form von zwei harmlosen Blättern auf dem Tisch. Wir schauen einander nicht mehr zornig, kampfbereit oder schon verzweifelt an, sondern richten unsere Augen gemeinsam auf zwei weiße Papiere vor uns aus. Wir schauen gewissermaßen von außen auf unser Problem, das schon rein optisch seine Dramatik verloren hat. Dieser gemeinsame Blick auf das Thema heißt auch: „die Metaebene einnehmen“. Wir sitzen uns nicht mehr als Kontrahenten gegenüber und verstricken uns in keine unergiebige Diskussion mehr, sondern sitzen Schulter an Schulter nebeneinander und schauen in die gleiche Richtung. Allein schon dadurch verändert sich die Atmosphäre.

Die Pentagramme geben die subjektiven Wahrheiten von beiden wieder. Ein Pentagramm beansprucht nicht, objektiv richtig oder wahr zu sein. Dadurch wird alles entspannter. C. und ich müssen nicht mehr streiten. Vielmehr überlegen wir gemeinsam, wie das Problem, das da vor uns auf dem Tisch liegt – fast als sei es das Problem von zwei anderen – lösen können. Die Lösung fand sich rasch: C. war von nun an einfach dabei, wenn ich wichtige Mitarbeitergespräche führte.

C.s Aufgabe beschränkte sich darauf, darauf zu achten, wie klar ich mich gegenüber meinen Mitarbeitern ausdrückte. Ich empfand C.s pure Präsenz schon als ausgesprochen entlastend. Ich fühlte mich sicherer und entspannter, wenn sie an meiner Seite war. Allein dadurch, dass sie da war, achtete ich auf die Klarheit meiner Botschaften an meine Mitarbeiter so gut, dass C. nach den Gesprächen fast nichts zu beanstanden hatte. Mit C.s Unterstützung gelang es mir binnen eines Jahres, meine Firma so weit umzustrukturieren, dass ich heute frei bin, meine Herzensprojekte, die auch C. am Herzen liegen, zu verfolgen.


Gesprächsrunde im Kloter NaturSinne


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

DAZZ: Dasein - Zeit haben - Zuhören